

Naemi Härle und Dr. Marcus Eckelt von der Bertelsmann Stiftung machen in ihrem Gastbeitrag zur beruflichen Qualifizierung deutlich, dass sich die berufliche Bildung in Folge der Digitalisierung zwar spürbar verändern wird, aber ein Abgesang auf die duale Ausbildung dennoch nicht angebracht ist.
"Die Digitalisierung verändert die Art und Weise, wie wir arbeiten und leben, ebenso grundsätzlich wie die Industrialisierung. Genau wie damals wird heute gefragt, ob das existierende Ausbildungsmodell solchen Veränderungen standhalten kann. Was viele nicht wissen: Im 19. Jahrhundert wurde in Deutschland das Aus- und Weiterbildungsmodell der mittelalterlichen Zünfte neu aufgegriffen und in den Industriebetrieben eingeführt. Seitdem spricht man auch dort von Lehrlingen, Gesellen und Meistern.
Der Erfolg der deutschen Industrie und damit auch des Ausbildungsmodells bewies, dass die Verbindung von Tradition und Moderne kein Irrweg war. Im 20. Jahrhundert wurde Schritt für Schritt die duale Ausbildung entwickelt, wie wir sie heute kennen: Die betriebliche Ausbildung wurde durch die verpflichtende Berufsschule ergänzt und mit dem Berufsbildungsgesetz eine einheitliche gesetzliche Grundlage für Aus- und Fortbildung geschaffen. Seitdem wurden Ausbildungsordnungen für zahlreiche Berufe in der Industrie sowie in Dienstleistungsbranchen erlassen, die von der Bevölkerungsmehrheit zum Erwerb eines berufsqualifizierenden Abschlusses gewählt wurden. Gegenwärtig beginnen jährlich über 500.000 junge Menschen eine duale Ausbildung.
Herausforderungen der Digitalisierung für die berufliche Bildung
Die Digitalisierung der Arbeitswelt führt zu weitreichendem Anpassungsbedarf für die Berufsbildung in Deutschland, weil sich die Anforderungsprofile vieler Arbeitsplätze verändern. Die Szenariostudie der Wissenschaftler Frey und Osborn im Jahr 2014 schockte mit dem Befund, dass etwa die Hälfte aller Arbeitsplätze in den USA durch digital vernetzte Roboter und Computer ersetzt werden könnten. Die Volkswirte Brzeski und Burk kamen 2015 hinsichtlich des deutschen Arbeitsmarkts zu ähnlichen Ergebnissen. Entsprechend ist es eine hochaktuelle Diskussion, wie sich die Digitalisierung auf die berufliche (Aus) Bildung auswirkt. Allerdings werden unter dem Begriff der Digitalisierung unterschiedlichste Entwicklungen diskutiert. Die Berufsbildungsforscher Euler und Severing haben deshalb drei Ebenen identifiziert, auf denen sich die Herausforderungen der Digitalisierung für die berufliche Bildung konzentrieren: Ausbildungsorganisation, Didaktik sowie Ordnungspolitik.
Ausbildungsorganisation: Technik allein reicht nicht
In der Öffentlichkeit wird im Hinblick auf Digitalisierung zumeist über die technologische Ausstattung diskutiert. Es ist offensichtlich, dass die Ausstattung der Lernorte mit leistungsfähigen Rechnern, schnellem Internet und entsprechenden Maschinen/Programmen eine Grundvoraussetzung darstellt, um Auszubildende auf ihre Tätigkeit in der digitalisierten Arbeitswelt vorzubereiten. Dieser Handlungsbedarf wurde von der Politik erkannt und wird unter anderem mit dem »DigitalPakt Schule« angegangen: Binnen fünf Jahren werden fünf Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um Schulen technisch auszustatten. Die Länder verpflichten sich im Gegenzug u.a. die Anpassung von Lehrplänen vorzunehmen.
Es reicht aber nicht aus, Schulen z. B. mit Tablets und Virtual-Reality-Brillen zu bestücken. Auszubildende profitieren von diesen neuen Geräten nur dann, wenn diese sinnvoll eingesetzt werden. Dazu braucht es didaktische Konzepte und entsprechend weitergebildete Lehrkräfte. Dass hier bildungspolitischer Handlungsbedarf besteht, zeigt der Monitor Digitale Bildung: Die befragten Berufschullehrer* innen und Ausbilder*innen geben an, dass sie die notwendigen Kompetenzen für den Einsatz digitaler Lernmedien bislang vorwiegend durch den informellen Austausch erwerben. Was fehlt, sind ausreichende Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte. Ideal wären Weiterbildungsangebote, die sich an schulische Lehrkräfte und betriebliche Ausbilder*innen gemeinsam richten. Das dadurch geschaffene Verständnis für die Arbeitsprozesse auf der anderen Seite sowie der Austausch könnten zusätzlich die Kooperation zwischen den Lernorten verbessern.
Ungelöst ist bislang auch die Frage der dauerhaften professionellen Betreuung und Wartung der Geräte. Auch für die technische Kompatibilität zwischen den Lernorten gibt es bislang kaum übergreifende Konzepte. Eine aktuelle Berechnung im Auftrag der GEW kommt zu dem Ergebnis, dass die im »DigitalPakt Schule« in Aussicht gestellten Mittel nur für die digitale Mindestausstattung reichen. Für eine Verstetigung des Pakts seien weitere 15 Milliarden Euro nötig.
Didaktik: Versprechung oder doch nur Versprecher?
Auf der Ebene der Didaktik gibt es viele Versprechungen, wie mit Hilfe der Digitalisierung Lerninhalte stark individualisiert werden können. Schwierige Sachverhalte sollen mit Hilfe von Videos unabhängig von der Lehrkraft beliebig oft erläutert und Auszubildende so bei Lernschwierigkeiten besser unterstützt werden. Apps versprechen zudem Lernmöglichkeiten unabhängig von Berufsschule und Betrieb. Tatsächlich sind die nachgewiesenen Effekte des Einsatzes von digitalen Instrumenten aber noch nicht ausreichend untersucht. Die goldene Regel ist, die Materialien einzusetzen, die den größten Lernerfolg versprechen. Das müssen nicht immer digitale Technologien sein. Entscheidend bleibt die Einbettung in Lehrkonzepte und damit die Professionalität des Lehr- und Ausbildungspersonals.
Jugendliche werden oft als Digital Natives bezeichnet, weil sie die Welt ohne Internet, Handys und Online-Plattformen nicht mehr kennengelernt haben. Allerdings wäre es ein Missverständnis, die Medienaffinität von Jugendlichen mit Medienkompetenz gleichzusetzen. In der internationalen Vergleichsstudie ICILS werden die Computerkompetenzen von Schüler*innen untersucht. Deutschland liegt dabei im internationalen Vergleich im Mittelfeld. 30 Prozent der Schüler*innen erreichten nur die beiden unteren Kompetenzstufen – das heißt, sie können maximal einen Link in einem Browserfenster öffnen. Lediglich zwei Prozent erreichen die höchste Stufe und sind in der Lage, selbstständig Informationen zu ermitteln, zu bewerten und zu organisieren. Es gilt also weiterhin, medienpädagogische Ansätze in den allgemeinbildenden Schulen und in der beruflichen Ausbildung auszubauen.
Ordnungspolitik: Aus- und Weiterbildung enger verzahnen
Die Digitalisierung führt zweifellos zu Veränderungen von Berufen. Manche Tätigkeiten werden künftig nicht mehr notwendigerweise durch Menschen erledigt. Andere Tätigkeiten entstehen ganz neu. Dass Berufe neu entstehen, sich verändern und wieder verschwinden, ist nichts Neues. Die etablierten Verfahren zur Anpassung der Inhalte und Kompetenzen, die in einem Beruf in der Ausbildung vermittelt werden sollen, sind langwierig. Sozialpartner und staatliche Stellen nehmen sich bei diesen Neuordnungsverfahren auch deshalb viel Zeit, weil man davon ausgehen konnte, dass sie erst nach Jahrzehnten wiederholt werden müssen. Allerdings heißt es im Kontext der Digitalisierung, dass es zu einer dauerhaften Beschleunigung der Veränderungsgeschwindigkeit kommt. Es wird deshalb darüber nachgedacht, wie diese sogenannte Ordnungsarbeit so gestaltet werden kann, dass die Ausbildungsordnungen nicht laufend überarbeitet werden müssen. Dazu beitragen können u.a. technologieoffene, leicht aktualisierbare und kompetenzorientierte Curricula.
Hinzu kommt, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt ein langwieriger Prozess ist. Entsprechend steigt der Weiterbildungsbedarf der Beschäftigten wie auch derjenigen, die sich heute noch in der Ausbildung befinden. Die Vorstellung von einer Ausbildung fürs ganze Leben wird obsolet. Stattdessen ist von einem kontinuierlichen Weiterbildungsbedarf auszugehen. Es macht deshalb Sinn, die beruflichen Schulen und überbetrieblichen Ausbildungsstätten zu regionalen Weiterbildungszentren auszubauen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen können von so einem Angebot profitieren.
Berufliche Bildung jetzt fit für die Zukunft machen
Die berufliche Bildung wird sich in Folge der Digitalisierung verändern. Ein Abgesang auf die duale Ausbildung ist jedoch nicht angebracht, denn ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diese höchst anpassungsfähig ist. Auf die Veränderungen der Anforderungsprofile vieler Arbeitsplätze durch die Digitalisierung gibt es nicht die eine perfekte Lösung. Es kommt vielmehr darauf an, basierend auf dem existierenden Aus- und Weiterbildungsmodell ein Gesamtkonzept für die Berufsbildung in der digitalen Arbeitswelt zu entwickeln. Dabei ist es wichtig, neben den Risiken auch die Chancen zu erkennen und die Weichen auf allen drei Ebenen für eine zukunftsfähige berufliche Bildung zu stellen."
Der Gastbeitrag ist zuerst im Branchenmagazin "Personaldienstleister 3/2019" erschienen.
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Über die Autoren
Naemi Härle studierte Soziologie mit den Fachrichtungen »Sozialstruktur und soziale Ungleichheit« sowie »Methoden der empirischen Sozialforschung« und ist als Senior Projektmanagerin für die Bertelsmann Stiftung tätig. Im Projekt »Chance Ausbildung« erarbeitet sie u. a. Analysen und Reformvorschläge für ein chancengerechtes und zugleich leistungsfähiges Ausbildungssystem. Dabei beschäftigt sie sich vor allem mit den Themen der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung, dem Kosten-Nutzen-Verhältnis dualer Ausbildungsmodelle aus Sicht von Betrieben und der schulischen Berufsorientierung.
Dr. Marcus Eckelt studierte Politikwissenschaft und promovierte in Berufspädagogik mit einem Forschungsprojekt über den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen. Er ist als Projektmanager im Projekt »Chance Ausbildung« für die Bertelsmann Stiftung tätig. Dabei beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklungsdynamik der beruflichen Bildung, mit dem Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung sowie mit Fragen der Chancengerechtigkeit beim Zugang zu beruflicher Bildung.
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