Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 13.01.2022, Az.: C-514/20, entschieden, dass EU-Recht Regelungen in Tarifverträgen entgegenstehen kann, nach denen genommener bezahlter Jahresurlaub bei der Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nicht berücksichtigt wird.
Sachverhalt
Der Kläger ist bei der Beklagten als Zeitarbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt. Auf sein Arbeitsverhältnis gilt aufgrund beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag iGZ/DGB, der in § 4.1.2. vorsieht, dass in Monaten mit 23 Arbeitstagen ab einer geleisteten Arbeitszeit von mehr als 184 Stunden ein Zuschlag in Höhe von 25% gezahlt wird.
Der Kläger arbeitete im August 2017 an 13 Tagen insgesamt 121,75 Stunden und nahm für die verbleibenden 10 Arbeitstage bezahlten Urlaub, der 84,7 Arbeitsstunden entsprach. Der Kläger begehrt für den Monat August 2017 Mehrarbeitszuschläge, da nach seiner Auffassung, die für den bezahlten Jahresurlaub abgerechneten Stunden für die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge mit zu berücksichtigen seien und daher von insgesamt 206,45 geleisteten Stunden auszugehen sei.
Sowohl erstinstanzlich (ArbG Dortmund, Urt. v. 14.2.2018, Az.: 10 Ca 4180/17 10) als auch zweitinstanzlich (LAG Hamm, Urt. v. 14.12.2018, Az.: 13 SA 589/18) wurde die Klage abgewiesen.
Auf die Revision des Klägers hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit Beschluss vom 17.06.2020 (Az.: 10 AZR 210/19) das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vorgelegt, da es sich nach Auffassung des BAGs um eine europarechtlich determinierte Rechtsfrage handele, die bisher nicht entschieden sei. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 31 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 2003/88/EG (sog. Arbeitszeitrichtlinie):
Mit der Vorlagefrage möchte der Senat wissen, ob Artikel 31 Absatz 2 GRCh und Artikel 7 der RL 2003/88/EG einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegenstehen, die für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen, nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt. [vgl. Beschluss des BAG vom 17.06.2020, ebenda]
Entscheidung des EuGHs
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG regelt, dass die Mitgliedstaaten erforderliche Maßnahmen treffen müssen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Jahresmindesturlaub von vier Wochen erhält. Nach Auffassung des EuGHs sei diese Norm im Lichte von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auszulegen, der jedem Arbeitnehmer ein Recht auf einen bezahlten Jahresurlaub zuspricht. Das Ziel des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub sei es, dass der Arbeitnehmer Zeit zur Erholung hat, um seine Sicherheit und seine Gesundheit zu schützen. Jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die Arbeitnehmer davon abhalten könne, bezahlten Jahresurlaub zunehmen, verstoße gegen dieses Ziel.
Der EuGH geht davon aus, dass ein Verstoß gegen diese Grundsätze vorliegen kann, wenn eine Regelung in einem Tarifvertrag den genommenen bezahlten Urlaub bei der Berechnung der Schwelle, der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit, nicht berücksichtigt. Eine solche Regelung könne nach Ansicht des EuGHs den Arbeitnehmer davon abhalten, in dem Monat, in dem er Überstunden gemacht habe, bezahlten Urlaub zu nehmen, weil die Inanspruchnahme von Urlaub für den Arbeitnehmer ein geringeres Entgelt nach sich ziehen kann.
Ein Mechanismus zur alleinigen Anrechnung von tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sei nicht mit dem in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vereinbar:
"Nach alledem ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegensteht, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden."
Auswirkung der Rechtsprechung des EuGHs
Das BAG muss das Verfahren nun abschließend entscheiden und dabei unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGHs prüfen, ob die Regelung in § 4.1.2. Manteltarifvertrag iGZ/DGB dazu geeignet ist, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, von seinem Recht auf bezahlten Jahresurlaub Gebrauch zu machen. Eine Entscheidung des BAG dürfte ca. in einem halben Jahr zu erwarten sein.
Bei der zugrundeliegenden Rechtsfrage handelt es sich nicht allein um eine zeitarbeitsspezifische Frage. Auch andere Tarifverträge stellen für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen ausschließlich auf die in einem Monat tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden ab. Dies entsprach auch der bisherigen Rechtsprechung des BAGs, wonach Ausfallstunden wegen Urlaubs für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nicht berücksichtigt werden mussten; vgl. BAG, Urteil vom 27.08.2008, Az.: 5 AZR 647/07. Diese Rechtsprechung des BAGs könnte sich nun aufgrund der Vorgaben des EuGHs ändern.
Der Manteltarifvertrag BAP enthält im Hinblick auf Mehrarbeitszuschläge in § 7.1 MTV BAP eine Regelung, wonach zuschlagspflichtig die vollen Arbeitsstunden sind, durch die die vereinbarte individuelle regelmäßige monatliche Arbeitszeit des Mitarbeiters in einem Monat um mehr als 15% überschritten wird.
Sofern die abschließende Rechtsprechung des BAGs zu dem vorgenannten Verfahren vorliegt, werden wir darüber informieren, inwieweit sich Auswirkungen für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nach dem BAP Tarifvertrag ergeben können.
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EuGH | Urteil des Gerichtshofs
In der Rechtssache C‑514/20
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